Der Draht nach oben (Matthäus 6,5-8+14-15)
Gottesdienst am 17.5.2020 in Brombach

Liebe Gemeinde,
vor einigen Wochen bekam ich einen wunderschönen Tulpenstrauß geschenkt. Die Blüten hatten kräftige Farben, sie sahen knackig aus, waren ein echter Hingucker. Im Garten blühten zeitgleich auch einige Tulpen. Sie sahen eher gewöhnlich aus, keine kräftigen Farben, kleiner und unscheinbarer. Welche Tulpe wäre ich lieber, so fragte ich mich. Lieber in diesem prachtvollen Strauß oder unscheinbar, aber mit der Erde verbunden, dauerhaft am Leben? Ich entschied mich für die Gartentulpe. 

Heute, am Sonntag Rogate, „Betet!“, der uns an unsere Verbindung mit Gott erinnert, kommen mir die Tulpen wieder in den Sinn. Was ist Beten anderes, als der Tulpenstiel, der mich mit dem Wurzelgrund verbunden hält und dafür sorgt, dass die Kraft aus der Erde in die Blüte steigt, und die Blüte mit dem Wurzelgrund im Austausch ist.

Das Gebet ist die Lebensader, die mir die Beziehung zu Gott ermöglicht. Fehlt das Gebet, bin ich von Gott abgeschnitten, kein Hin und Her zwischen ihm und mir findet statt. Seine Liebe kann nicht fließen, sie kann ihre Kraft in meiner Seele nicht entfalten. Ich lebe aus der Reserve ohne Nachschub.

Was ist Beten? So fragten Jesus damals auch seine Freunde. Jesus nahm sie mit auf einen Berg, andere folgten ihnen. Dort, in der Bergpredigt, entfaltete Jesus Gottes Sicht auf unser Leben und unser Verhalten. Und Kern seiner langen Rede war das Gebet, die innigste Verbindung zwischen Gott und Mensch.

Matthäus 6,5-8+14-15
Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Scheinheiligen: Sie stellen sich zum Beten gerne in den Synagogen und an den Straßenecken auf – damit die Leute sie sehen können. Amen, das sage ich euch: Sie haben damit ihren Lohn schon bekommen. Wenn du betest, geh in dein Zimmer und verriegel die Tür. Bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird dich dafür belohnen. Sprecht eure Gebete nicht gedankenlos vor euch hin – so machen es die Heiden! Denn sie meinen, ihr Gebet wird erhört, weil sie viele Worte machen. Macht es nicht so wie sie! Denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch bevor ihr ihn darum bittet.
Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater euch auch vergeben. Wenn ihr den Menschen aber nicht vergebt, dann wird euer Vater euch eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

Was ist Beten?
Ein Roman, den ich vor einiger Zeit las, beschrieb die Lebensgeschichte einer Frau, die irgendwann am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen war. Von ihr hieß es, sie sei kein religiöser Mensch und hätte nie gebetet, aber nun setzte sie sich hin und betete aus vollem Herzen.

Diese Szene beschreibt das Gebet als eine Art Alarmknopf. Wenn es im Leben brennt, drückt man diesen Knopf, Gott wird seine Feuerwehren schicken und sofort retten. Das ist die Erwartung, die dahintersteckt.
Ja, Gebet kann ein Alarmknopf sein. Wir sind uns in den dunkelsten Stunden unseres Lebens unserer Ohnmacht bewusst. Wir sind vom hohen Ross der Selbstbestimmung und Selbstkontrolle gefallen. Wir finden uns wie eine verwelkte Schnittblume im Biomüll wieder und hoffen darauf, dass Gott uns wieder an die Tulpenzwiebel anwachsen lässt.

Jesus erzählte Gleichnisse, die genau dieses Gebet um Rettung zum Ausdruck bringen. Eine arme Witwe zum Beispiel bestürmte den ungerechten Richter so lange, bis er ihr widerwillig Recht gab. Das bedeutete für sie Überleben. Und Jesus folgerte, dass wenn schon ein ungerechter Richter Recht spricht, wie viel mehr wird sich der liebende Vater im Himmel um abgeschnittene Tulpen kümmern und sie wieder einpflanzen (Lukas 18,1-8).

Doch Gebet ist mehr als ein Alarmknopf in schlechten Zeiten. Gebet ist eine Grundhaltung, ein Blumenstängel, der die Blüte mit der nährenden Erde verbindet. 

Jesus legt in seiner Predigt auf dem Berg nahe, diese Form des Gebets zu entdecken.

Gebet in der Abstellkammer
Damals hatte Jesus Leute vor Augen, die für ihre Gebete öffentlich bewundert wurden. Vielleicht waren die Beter damals die Straßenmusiker von heute, die Aufmerksamkeit und bei guter Performance Anerkennung bekommen. Doch ihr Beten war kein Austausch mit Gott. Sie pflegten in ihren öffentlichen Gebeten an den Straßenecken nicht ihren Draht nach oben, sondern nutzten das Gebet, um von anderen gesehen und bewundert zu werden. Denen sagte Jesus, sie sollten in ihrer Abstellkammer beten. Die hatte damals kein Fenster, durch das man von außen hineinschauen konnte, und nur eine Tür, also ein idealer Ort, um allein zu sein.

Auch wenn heute niemand mehr an der Straßenecke fürs Beten bestaunt wird, so hat Jesus auch für uns eine wichtige Botschaft. Er rät uns,

  • einen besonderen Ort für den Austausch mit Gott aufzusuchen. An diesem Ort sollte unser Blick nicht auf abzuarbeitende Listen fallen, nicht auf das blinkende Smartphone mit neuen Nachrichten und auch nicht auf Baustellen aller Art. Es sollte ein Ort ohne Durchgangsverkehr sein, an dem wir nicht mit Sätzen wie „Könntest du mal gerade …?“ gestört werden. Der Platz zum Beten sollte uns stattdessen inspirieren, die Nähe Gottes zu erfahren, unsere Seele zu öffnen. Mein persönlicher Ort ist ein Kniebänkchen unter dem Dachfenster. Hier fühle ich mich dem Himmel ganz nahe. Eine Freundin von mir geht durch einen Naturpark. Sie empfindet da Gottes Gegenwart ganz stark. Ein Bekannter geht morgens immer in eine offene Kirche, dort hat er Abstand zu seinen Tagespflichten und spürt Gott. Diesen inspirierenden Ort für uns zu finden, wird nicht schwer sein. Er erschließt sich gleich, wenn wir uns die Frage beantworten: Wo bin ich am liebsten mit Gott allein?
  • regelmäßig den Kontakt zu Gott zu suchen. Zurzeit Jesu betete man dreimal am Tag, morgens, mittags, abends. Das entspricht den Mahlzeiten, mit denen wir unseren Körper fit halten, Frühstück, Mittag, Abendessen. Wie wir das Essen brauchen, um am Leben zu bleiben, so brauchen wir die Beziehung zu Gott mehrmals am Tag. Das müssen keine langen Gebete sein, da genügt ein „Espresso-Gebet“, ein kurzes Luftholen und Einladen: „Herr, komm in mein Herz, gib mir deinen Atem.“ 
Leider bin ich nicht die begeisterte Joggerin, es kostet mich Überwindung, die Joggingschuhe anzuziehen und loszulaufen. Während der Corona-Wochen spürte ich, wie mein Körper die normalen Wege hin und her vermisste. Also musste ich notgedrungen die Joggingschuhe anziehen. Zeitgleich las ich einen Tipp: „Legen Sie zur Erinnerung die Sportkleidung gut sichtbar bereit.“ Also tat ich das, ließ meine Sporthose im Flur liegen, eigentlich bei uns nicht üblich. Aber es hilft. Der Blick auf die Hose erinnert mich regelmäßig an meine kleine Abendrunde. Warum nicht diesen Tipp auch für unser Gebetsleben nehmen? Sichtbar eine Erinnerung irgendwo hinlegen und beim Vorbeigehen einmal tief Luft holen: „Herr, du bist da!“ Schon ist der Kontakt aktiviert.

Gebet mit einfachen Worten
Wer schon einmal erlebt hat, in einer Gruppe zu beten, der kennt wahrscheinlich diesen inneren Druck. Man will nichts Falsches beten, man will nicht etwas beten, was ein anderer vorher schon gesagt hatte. Man will beim Beten eine gute Figur abgeben. Alles Gedanken, die so gar nichts mit der Verbindung zu Gott zu tun haben.

Es geht doch eigentlich nur darum, das Herz für Gott zu öffnen und dafür die Unterstützung der anderen Betenden zu bekommen. Wir gestalten keine Werbeveranstaltung in eigener Sache, wenn wir beten, sondern sind wie an einem Familientisch im Gespräch mit Gott. Manchmal haben wir das Bedürfnis, uns alles von der Seele zu reden, unsere Bitten laut auszusprechen, Gott daran zu erinnern. Manchmal wollen wir nur empfangen, sitzen still da und halten die Hände auf. Manchmal sind wir gespannt, wozu Gott uns herausfordert, warten auf seine Inspiration. Doch immer dürfen wir uns sicher sein, dass er da ist und mit uns Kontakt hält.

Gebet und Vergebung
Eine besondere Betonung legt Jesus auf die Vergebung. Das erstaunt, nimmt doch bei uns eher das Bitten einen großen Raum ein. Doch Jesus macht klar, dass das Gebet nicht nur Alarmknopf, nicht nur Familientisch ist, sondern auch eine Waschstraße. Er möchte unser Herz reinigen. Das geht nicht von jetzt auf nachher, verschiedene Vorgänge sind nötig wie beim Autowaschen: Zugeben meiner Lasten, sie von Jesus anschauen lassen, mein Versagen erkennen und es schließlich in Jesu Hände legen. Er möchte uns unsere Steine von der Seele nehmen, unsere Scham, unser Gefühl von „Falsch-Sein“. 

Ein Test, ob wir unser Herz von ihm waschen lassen, ist, wie wir mit anderen umgehen. Können wir ihnen vergeben? Können wir ihre Schuld uns gegenüber loslassen, selbst wenn sie keinen Schritt der Versöhnung machen? 

Stellen wir uns das in einem zweiten Bild vor. Im Gebet kommen wir mit zwei vollen Händen. In der einen Hand klammern wir unsere Schuld fest, in der anderen Hand die Schuld der anderen uns gegenüber. Jesus bringt uns dazu, diese Hand zu öffnen und ihm die Schuld zu überlassen. Nun sind wir mit der anderen Hand dran. Wenn wir sie öffnen, übergeben wir Jesus auch das, was andere uns angetan haben. Ein Gebet, bei dem unsere Hände geöffnet werden, wird uns zu Friedensboten in einer Welt werden lassen, in der viel zu viele Menschen mit vollen Händen herumlaufen und dringend Entlastung brauchen.

Wie das gelingt? Vielleicht schon im aufmerksamen Beten des Vaterunsers, das Jesus seinen Leuten auf dem Berg und uns heute mitgegeben hat:
So sollt ihr beten: ›Unser Vater im Himmel, dein Name soll geheiligt werden. Dein Reich soll kommen. Dein Wille soll geschehen. Wie er im Himmel geschieht, so soll er auch auf der Erde Wirklichkeit werden. Gib uns das Brot, das wir für heute brauchen! Und vergib uns unsere Schuld – so wie wir denen vergeben haben, die uns gegenüber schuldig geworden sind. Und stelle uns nicht auf die Probe, sondern rette uns vor dem Bösen.“ (Matthäus 6,9-13)

Cornelia Trick


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