Weg mit den Altlasten (Matthäus 18,23-34)
Gottesdienst am 01.11.2015 in Brombach

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,
eine Gemeindegruppe saß zusammen und überlegte miteinander, was ihnen an der Gemeinde besonders wichtig war. Es kamen ganz unterschiedliche Aspekte zusammen. Jemand meinte, dass er die anderen zur Motivation brauchte. Eine erzählte, wie sie einen wichtigen Anstoß für ihre Lebensführung in der Gemeinde erhielt. Wieder ein anderer hob hervor, wie man gemeinsam viel mehr in dieser Welt bewegen könnte als allein. Einig waren sich alle, dass die Gemeinde ein gutes Übungsfeld ist, um zu lernen, wie Gott das Zusammenleben der Menschen eigentlich gewollt hat.

So sind im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums Worte Jesu zusammengestellt, die auf das Leben der Gemeinde abzielen. Verschiedene Themen spricht Jesus an. Er hat die Christenverfolgung im Blick, die die junge Gemeinde treffen wird, und warnt, niemand zu bewegen, von Jesus wegzugehen. Als Hauptaufgabe der Gemeinde sieht Jesus, den Verlorenen nachzugehen und sie in Gottes bergende Nähe zurückzubringen. Er nennt auch die Schwierigkeiten, die das Miteinander bereiten wird. Er ermutigt, einander zurecht zu helfen und zu korrigieren,  miteinander und füreinander zu beten. Und auch diese Frage hat Jesus im Blick: Wie kann das Zusammenleben gestaltet werden, wenn man schon eine ganze Weile beisammen ist? Verletzungen bleiben da nicht aus. So fragt Petrus Jesus. „Wie oft muss ich meinem Bruder, der Unrecht getan hat, vergeben?“ Einmal leuchtet gleich ein, auch 7-mal ist möglich, eine Woche lang. Aber irgendwann ist auch mal Schluss mit Vergebung. Jesus gibt eine unerwartete Antwort. 70-mal 7-mal, also 490-mal soll Petrus vergeben. Wer kann das schon?

Dazu erzählt Jesus ein Gleichnis.

Matthäus 18,23-34

Das Himmelreich gleicht einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. Und als er anfing abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, der war ihm zehntausend Zentner Silber schuldig. Da er's nun nicht bezahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen. Da fiel ihm der Knecht zu Füßen und flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir's alles bezahlen. Da hatte der Herr Erbarmen mit diesem Knecht und ließ ihn frei und die Schuld erließ er ihm auch. Da ging dieser Knecht hinaus und traf einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silbergroschen schuldig; und er packte und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du mir schuldig bist! Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir's bezahlen. Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er bezahlt hätte, was er schuldig war. Als aber seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten bei ihrem Herrn alles vor, was sich begeben hatte. Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du böser Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast; hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? Und sein Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis er alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig war.

Die Geschichte ist einfach zu begreifen. Einer hatte so viele Schulden, dass er sie nie im Leben abarbeiten konnte. Der König wollte ihn deshalb mitsamt der ganzen Familie versklaven. Der Schuldner flehte ihn an und bat um Geduld und Aufschub. Der König hatte Mitleid mit ihm und schenkte ihm sein freies Leben ohne Schulden und Auflagen. 

Halten wir hier kurz inne. Es wird uns kein Grund genannt, warum sich der König erbarmte. Wollte er gebeten sein und erließ dem Knecht die Schuld erst, nachdem der Knecht ihn anbettelte? Sah der König die Not dieser Familie und lenkte deshalb ein? Wir bekommen keine Antwort, sollen aber wohl lernen: So ist Gott. Er rechnet Schuld nicht auf, hält nicht fest am Minus-Kontostand, sondern erbarmt sich aus freien Stücken. 

Stehe ich bei Gott in der Schuld wie dieser Knecht beim König? Diese Frage ist wohl wichtig zu beantworten, denn ohne Schuld brauche ich auch keine Vergebung. Was ist Schuld bei Gott? Auf den ersten Seiten der Bibel wird dieser Frage nachgegangen, und es gibt klare Antworten. Ich mache mich schuldig, wenn ich nicht auf Gott höre, mich seinen guten Weisungen verschließe. Ich lade Schuld auf mich, wenn ich Menschen, die er genauso liebt wie mich, Unrecht tue, Gewalt gegen sie anwende, mich an ihnen vergreife.

Alles soziale Schuldig-Werden ist auch ein Schuldig-Werden an Gott. Wenn ich am Abend meinen Tag Revue-passieren lasse, stoße ich auf Situationen, wo ich lieblos war, kleingläubig, andere bevormundete oder ihnen im übertragenen oder direkten Sinn die Vorfahrt nahm. Ich werde aufmerksam auf die blinden Flecken, die sehr wohl etwas mit meinem Verhältnis zu Gott zu tun haben und einer Klärung bedürfen. 

Ich sehne mich danach, von der Last befreit zu werden, Vergebung von Gott und meinen Mitmenschen zu erfahren. Selbstverständlich ist das nicht. Manchmal ist die Tür zum anderen danach fest verschlossen. So wird das Gleichnis Jesu zu meiner Geschichte. Ja, auch ich bin so eine Magd, vielleicht nicht mit 10.000 Zentnern Silber in der Kreide, aber genug, dass auch ich rausgeworfen werden könnte.

Der zweite Teil des Gleichnisses bezieht sich nun auf die Gemeinde. 10.000 Zentner Silber stehen in keinem Vergleich zu hundert Silbergroschen. Der Knecht handelt eigentlich durchaus klug und nachvollziehbar. Ihm wurde soeben die Freiheit mit dem Kontostand Null geschenkt. Er muss sich jetzt eine schuldenfreie Zukunft aufbauen. Was liegt näher, als erst mal die Ausstände einzutreiben und mit ihnen die neue Existenz zu begründen. Ganz anders sieht es der König. Er erwartet, dass der Knecht von ihm gelernt hat und das Erbarmen weitergibt. Was er erfahren hat, soll er nun ebenso anwenden. Der König ist sauer und nimmt sein Angebot zurück. Der Knecht wird alle 10.000 Zentner Silber gnadenlos abarbeiten müssen.

Die Gemeinde, so gibt Jesus zu verstehen, ist angehalten, wie der Knecht die Barmherzigkeit Gottes weiterzugeben. Weil Gott so viel vergibt, ist auch unser Vergebungs-Reservoir unbegrenzt. 

Vergeben ist bei Jesus Weitergeben. Der Zöllner Zachäus hatte die Vergebung Jesu erlebt, als der sich bei ihm zum Essen einlud. Jesu Grundhaltung der Vergebung wurde für Zachäus zum Impuls, das Empfangene weiterzugeben. Seine Erfahrung prägte ihn, Jesus färbte auf ihn ab, sodass er selbst einer wurde, der barmherzig war. Der Impuls Jesu brachte den Stein bei ihm ins Rollen und soll es auch bei uns tun.

Was bedeutet nun Vergebung? Heilt nicht die Zeit die Wunden, sodass wir gar nicht vergeben müssen? Stellen wir uns eine große Wunde vor. Ja, die Zeit wird sie wahrscheinlich heilen, irgendwann wächst die Haut wieder zusammen. Aber es wird ein hässliches Narbengewebe bleiben, das zeitlebens stören wird. Ganz anders, wenn die Wunde ärztlich versorgt und genäht wird. Irgendwann sieht man nur noch einen weißen Strick, der erinnert, aber nicht einschränkt. Vergebung ist wie ein ärztliches Eingreifen, das Wunden heilen lässt, so dass sie nicht mehr stören und das Leben einschränken.

Wir lernen aus diesem Gleichnis einiges über Vergeben.

  • Vergeben heißt Verzichten. Die Vorsilbe „ver“ bedeutet „weg“. Ich gebe die Schuld des anderen weg, ich befreie mich von seiner Schuld. Ich poche nicht auf Wiedergutmachung oder auf Strafe. Der König wollte nichts haben für seine Vergebung. Er schrieb die Schulden des Mannes ab. Der Knecht durfte frei sein.
  • Vergeben heißt loslassen. Wenn mir jemand etwas angetan hat, dann trage ich daran wie an einem schweren Paket. Bitterkeit, Groll, Wut, Enttäuschung, Schmerz und sogar Hass brodeln in mir. Ich trage dieses Paket immer bei mir, auch wenn es gut verpackt und verschnürt ist. Ich trage es dem anderen hinterher, als ob er mir das jemals abnehmen würde. Ich mache mir damit das Leben schwer, nicht dem anderen, der es vielleicht gar nicht mitbekommt. Dieses Paket loszulassen, es Jesus vor die Füße zu legen, befreit und lässt wieder aufrecht gehen.
  • Vergeben ist ein bewusster Akt. Als ich vor 2 Jahren ein Fahrtraining beim ADAC absolvierte, bestand eine Übung darin, das Auto, das sich durch eine Schleuderplatte verursacht im Kreis drehte, wieder auf Kurs zu bringen. Es gab dafür eine einfache Anweisung: Schaue nach vorne, nicht auf die Bäume rechts und links. Denn du steuerst automatisch dahin, wohin deine Augen blicken. Als mein Auto ein Jahr später beim Abbiegen auf nasser Straße ins Trudeln geriet, erinnerte ich mich ans Fahrtraining. Wider Erwarten stabilisierte sich der Wagen und kam wieder auf die richtige Spur. Gott sei Dank. Wir können wie gebannt auf die uns zugefügten Verletzungen starren. Wir können aber auch geradeaus blicken, nach vorn schauen. Das ist ein bewusster Akt. Er will gelernt und geübt sein, aber er hilft uns, aus dem Kreisen um die Schuld und den Schuldigen auszusteigen und die Zukunft zu betreten.
  • Vergeben ist das Ende einer langen Wanderung. Ich erinnere mich an eine lange Bergwanderung. Es war heiß, der Weg steil, ein Ende nicht in Sicht. Aber wir hielten durch und kamen oben an. Es hatte sich gelohnt, der Ausblick war phänomenal, alle Mühe der Stunden vorher vergessen. Der Weg, bis wir vergeben können, ist manchmal eine lange, anstrengende Bergtour. Es gibt Umwege, Sackgassen, stechende Sonne und Nebelbänke. Wir werden vielleicht auch zweifeln, ob wir jemals oben ankommen. Da ist es gut, nicht allein unterwegs zu sein. Jemand aus der Gemeinde sollte mitgehen, und Jesus will sowieso begleiten.
  • Vergebung heißt Befreiung. Wenn ich auf dem Gipfel angekommen bin und von ganzem Herzen vergeben kann, dann bin ich frei von der Person, die mich verletzt hat. Ich muss ihm oder ihr nicht mehr Schlechtes wünschen, sie kontrollieren oder von ihr versöhnende Worte erhoffen. Der Pfeil ist aus der Wunde gelöst und wird nicht länger darin gerührt. Die Wunde ist vernäht und heilt.
Jesus erzählt das Gleichnis vom Schalksknecht, weil Vergebung der Grundstock jeder Gemeinschaft ist. Er kennt uns und weiß, dass wir zum Vergeben Ermutigung und Unterstützung brauchen.

Mit einer Bergsteigergruppe waren wir unterwegs. Am nächsten Morgen sollte das Finsteraarhorn bestiegen werden. Ich war erkältet und dachte, was soll ich mir das antun. Bleibe ich lieber auf der Hütte und trinke Tee. Der Bergführer ließ nicht locker, er wusste aus Erfahrung, dass ich das hinterher sehr bereuen würde. Also machte ich mich nach all seinem Drängen ihm zuliebe auf den Weg. Wir mussten zig-mal anhalten, weil ich schlecht Luft bekam. Aber er nahm es gelassen und geduldig hin. Dann hatten wir den Gipfel erreicht. Was war die Freude groß.

So sind wir unterwegs mit unseren Paketen der Verletzungen. Es scheint verlockend, auf halber Höhe abzubrechen. Wir brauchen Bergführer, die uns an die Hand nehmen. Mit uns den Schmerz aushalten. Mit uns fühlen und uns doch herausfordern. Darum sind wir als Christen nicht allein unterwegs, sondern in der Gemeinschaft mit Jesus und der Gemeinde.

Wie oft soll ich vergeben? So fragte einst Petrus. Wie oft hat Gott mir vergeben? Wie oft haben mir andere vergeben? Da kommt einiges zusammen. Ich kann vergeben, weil ich Gottes Kraft dazu bekomme. Wir können einander vergeben, weil wir das weitergeben, was wir selbst empfangen haben. So sammeln sich in unserer Gemeinde keine Schwermetalle der Bitterkeit an, die zu Krankheiten führen, sondern wir dürfen ein Ort des Friedens in dieser und für diese Welt sein.

Vielleicht noch als kleine Bemerkung am Schluss: Vergeben heißt nicht Vergessen. Es muss mit dem anderen nicht werden wie vorher. Auch gut verheilte Narben sind Erinnerungen, die gleichen Fehler nicht zweimal zu machen. Die Beziehung zum anderen muss nicht innig, aber sie kann frei und offen werden, ohne den Wunsch nach Rache oder Abrechnung. Das ist schon sehr viel.

Freuen dürfen sich alle, die Frieden stiften – Gott wird sie als seine Söhne und Töchter annehmen. (Matthäus 5,9)

Cornelia Trick


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